Free Walking Tours gibt es in fast allen größeren Tourismusdestinationen. Das Prinzip ist einfach: einen fixen Preis gibt es keinen, am Ende entscheidet jede/r selbst wie viel die Tour für sie/ihn wert war. Treffpunkt und Route wird meist über das Internet kommuniziert, ganz unkompliziert und ohne viel organisatorischen Aufwand.
Am ausgeschriebenen Startpunkt trifft sich dann eine überschaubare (ca. 20 Personen in Venedig) bis sehr große Gruppe (ca. 100 Personen in Tallinn) an Interessierten mit dem Guide. Die Truppe ist meist sehr bunt gemischt: alle Altersgruppen und Sprachen sind vertreten. Sehr oft sind die Guides geprüfte Fremdenführer/innen (wie bei unserer Tour mit Venice Free Walking Tour durch Venedig), die zum Teil ihren Lebensunterhalt mit Free Walking Tours bestreiten.
Unsere Tour in Venedig versprach interessante Orte im Norden der Stadt – v.a. im und um das Viertel Cannaregio – anzusteuern. Ziel war ein Einblick in die Geschichte, das Leben und die Kunst und Kultur im „echten“ Venedig. Unsere Fremdenführerin Lou – eine echte Venezianerin aus Cannaregio – hatte sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt für nur 2,5 Stunden.
Es ging los mit einer Einführung in die Geschichte der Stadt und wie sie zur Seemacht aufstiegt. 1300 Jahre im kurzweiligen Schnelldurchlauf. Zisternen, die man heute noch auf allen Plätzen der Stadt findet, trugen mit ihrem ausgeklügelten Regenwasser-Filter-System dazu bei.
Gelüftet wurde auch das Geheimnis hinter der allseits bekannten weißen Maske mit der langen Nase: es handelt sich um Pest Masken, die von den Ärzten zum Schutz getragen wurden. Die lange Nase drückt die Nasenlöcher zu und verhindert, dass die Krankheit gerochen wird (man glaubte über den Geruchssinn würde sich die Krankheit ausbreiten).
Eine sehr interessante Station war der Campo di S. Giovanni e Paolo. Dort findet sich nicht nur die monumentale Basilika Santi Giovanni e Paolo. Auch das einzige Krankenhaus der Stadt, untergebracht in der Scuola Grande di San Marco, ist hier. Als Scuola wurden in Venedig karitative und geistliche Zünfte und Gilden bezeichnet. „Ein Mix aus Charity und Country Club“ wie unsere Stadtführerin es schön beschrieb. Eine Gruppe Kinder, die unbeschwert zwischen den beiden imposanten Gebäuden Fußball spielten, vermittelte einen authentischen Augenblick abseits der Touristenpfade.
Lou erzählte uns die intrigenvolle Geschichte des Cavaliere Bartolomeo Colleoni, der den Platz als Reiterstatue (von Andrea Verrocchio) überblickt. Eigentlich wollte er ja vor der Basilica St. Marco verewigt sein – sein testamentarischer Wunsch wurde jedoch anders (wenn auch wörtlich) ausgelegt und seine Statue zur Scuola San Marco verlegt.
Auffallend übrigens, wenn man sie einmal wahrgenommen hat, ist die Omnipräsenz der venezianischen Flagge in der Stadt. Die sechs Enden stehen für die sechs Bezirke der Stadt (die s.g. sestieri). Fremdenführer nutzen sie die Flagge als Wimpel auf einem langen Stab, dem es zu folgen gilt.
In vielen Gassen finden sich Schmuckbögen, die die Gebäude auf beiden Seiten verbinden. Sie sind Relikte eines alten Brauches: wenn sich zwei Familien über die Vermählung ihrer Kinder vereinigten, wurde ein Bogen vom Palast einer Familie zu dem der anderen gebaut, um diese neue Verbindung anzuzeigen. Desto reicher und wichtiger die Familien, desto größer der Bogen.
Letzte Station war der Fischmarkt. Dort erregte eine Tafel mit Längenmaßen für Fische unsere Aufmerksamkeit. Die Venezianer definierten darauf die Mindestmaße der lokalen Fische für den Verkauf. So wurde sichergestellt, dass der Fischbestand sich von der Befischung gut erholen kann. Sehr fortschrittlich!
Zum Abschluss gab es ein paar Insider Tipps wie frau/man gute lokale Restaurants und Bars findet – inklusive einer Liste mit Empfehlungen – und worauf beim Souvenirkauf zu achten ist. An alle Wünsche und Bedürfnisse wurde gedacht.
Nach der Tour gönnte sich ein kleines Grüppchen noch einen echten venezianischen Aperitivo mit Select und ein paar Cicchetti. Che bella giornata!
Fazit
Free Walking Tours stellen eine sehr niederschwellige Form der Kulturvermittlung dar. Das Dialogpotential ist sehr hoch. Der Austausch in der Gruppe und mit dem Guide kann je nach Gruppengröße sehr intensiv sein. Die Qualität der Vermittlung hängt – wie bei allen Führungen – sehr stark von der Persönlichkeit des Guides ab. Bisher wurden wir selten enttäuscht.
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